DGPPN Kongressprogramm 2014 - page 72

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RUND UM DEN KONGRESS
JULIUS KLINGEBIEL
UND SEINE ZELLE
Auch in diesem Jahr werden Kunstwerke psychisch erkrankter
Menschen auf dem DGPPN-Kongress ausgestellt und besprochen:
Die beeindruckenden Wandmalereien des Psychiatriepatienten Julius
Klingebiel sind als begehbare Rauminstallation zu sehen.
Julius Klingebiel (1904–1965) erkrankte 1939
an einer Psychose und wurde über Langen-
hagen und Wunstorf im Jahr 1940 in das
Verwahrungshaus nach Göttingen verbracht.
Er erlitt eine Zwangssterilisation und wurde
für die T4-Aktion gemeldet, überlebte aber
die NS-Psychiatrie. Nach dem Krieg blieb er
bis 1963 in seiner Zelle untergebracht, ohne
dass es je einen richterlichen Beschluss gege-
ben hätte. In dieser Zeit malte er seine Zelle
fast vollständig aus und schuf ein komplexes
und solitäres Kunstwerk, das nur wenigen
Experten bekannt war und heute unter Denk-
malschutz steht.
„Outsider-Kunst“
Nur einen schmalen Streifen unter der De-
cke ließ Klingebiel in seiner Zelle unbemalt.
Er selbst hat sein Werk nie als beendet be-
trachtet, sondern immer wieder einzelne
Partien übermalt. Zu sehen sind unzählige
Formen und Motive, die er durch Linien,
Umrahmungen und andere strukturierende
Elemente zu ordnen versuchte. Auffallend
oft hat Klingebiel Tiere gemalt – Löwen,
Tiger oder andere exotische Tiere, wie den
indischen Axis-Hirschen, den er vermutlich
Mitte der 1920-er Jahre im Zoo in Hannover
gesehen hatte. Heute gelten die Wandmale-
reien als eines der bedeutendsten Werke der
sogenannten „Outsider-Kunst“.
Als Rauminstallation erlebbar
Die Zelle selbst ist nicht mehr öffentlich zu-
gänglich. Ein im Jahr 2010 von Prof. Andreas
Spengler (Wunstorf), Dr. Manfred Koller
(Göttingen) und Dr. Dirk Hesse (Moringen)
initiiertes Forschungsprojekt hat die außer-
gewöhnliche Biografie des Künstlers und
sein bildnerisches Werk psychiatriehisto-
risch und kunstgeschichtlich aufgearbeitet,
gestützt auf alten Fotos, Interviews mit Zeit-
zeugen und Archivfunde. Die Ausmalung
wurde in einer neuen begehbaren fotogra-
fischen Rauminstallation erlebbar gemacht,
die auf dem DGPPN Kongress präsentiert
wird. Das außergewöhnliche daran: Die Kon-
gressteilnehmerinnen und -teilnehmer ha-
ben die Möglichkeit, regelrecht in das Kunst-
werk einzutauchen und die Wandmalereien
aus der Perspektive des Künstlers zu erleben.
Hinzu kommen eine Begleitausstellung zur
Biografie und zur Geschichte der Zelle sowie
einige Einzelgemälde. Weitere Informationen
zu Julius Klingebiel auf
.
© Hans Starosta
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